Rosario: Die Reruralisierung einer Stadt
Mit 1,3 Millionen Bürgern ist Rosario die drittgrößte Stadt Argentiniens und –trotzt der momentan instabilen politischen Lage des Landes– ein internationales Vorbild für urbane Landwirtschaft. Ein Blick auf eine soziale Stadtbegrünung, deren Schwerpunkt das Überwinden von sozialen Abgründen ist.
Das Planetarium der Stadt Rosario befindet sich direkt an dem breiten Paraná Fluss. Antonio Lattucca, Mitgründer der hiesigen urbanen Landwirtschaftsbewegung, begrüßt den Leiter des Planetariums mit einer Umarmung und schlägt uns vor, einen Kreis zu bilden, damit wir uns vorstellen können. Die Teilnehmer, mehr als 20 Personen, sind Biogärtner aus Tucumán, Buenos Aires und selbstverständlich auch aus Rosario. „Die Betrachtung der Sterne spielte eine wesentliche Rolle bei uralten landwirtschaftlichen Traditionen Südamerikas. Wir wollen zeigen, dass sie sich mit der wissenschaftlichen Herangehensweise des Planetariums verbinden können“, sagt Antonio einleitend.
Kurz nach der Sprechrunde beginnt die richtige Aufgabe: das Spritzen von biodynamischen Präparaten im essbaren Garten, den das Planetarium mithilfe der agrarökologischen Bewegung der Stadt eingerichtet hatte. Dieser ist nur ein Beispiel von den tausenden „Huertas“, auf welche die Rosarinos und Rosarinas besonders stolz sind, denn sie ermöglichen den Zugang zu pestizidfreiem Gemüse, begünstigen die Revitalisierung einkommensschwachen Wohngegenden und bilden einen städtischen Wertschopfungskreislauf, welcher die Reruralisierung der Stadt zum Ziel hat.
Die Krise als Katalysator
„Viele unserer Gärtner migrierten vom Land und brachten schon kleinbäuerliches Wissen mit, einen Schatz, den wir in Rosario wiederbeleben und in Form einer politischen Verordnung umwandeln konnten.“ Antonio erinnert sich an die 90er Jahren als die ersten Gemeinschaftsgärten dank der Zusammenarbeit von der Nichtregierungsorganisation CEPAR, dem staatlich finanzierten Prohuerta-Programm und einer Gruppe von Gärtnerinnen ins Leben gerufen wurden. Die gedeihende Stadtlandwirtschaft erlebte aber um Jahr 2001 einen Wendepunkt, als Argentinien in eine der heftigsten Wirtschaftskrise seiner Geschichte geriet und Millionen Menschen unter die Armutsgrenze fielen.
Antonio Lattucca in dem Agrarökologischen und Biodynamischen Zentrum Rosarios. „Diese ist eine multidimensionale Zusammenarbeit, an der die Stadtverwaltung, wissenschaftliche Institutionen, die internationale Kooperation und die Gärtnervereine mitmachen.“ / Vorstellungsrunde bei dem Planetarium. / Der Garten des Planetariums.
Javier Couretot, Agraringeneur aus Rosario, leitet die Aufbereitung eines Fladenpräparats in dem Garten des Planetariums. / Virginia Ponce (links) aus dem Agrarökologischen Zentrum der Stadt zeigt die Biodiversität des "Huerto". / Dynamisierung des Präparats.
„Die Krisen bringen aber auch die Gelegenheit mit sich, Neues entstehen zu lassen“, behauptet Antonio. Die agrarökologische urbane Landwirtschaft in brachliegenden Gebieten Rosarios spielte damals eine wesentliche Rolle dabei, den verarmten Bürgern eine vitaminreiche Frischkostversorgung zu ermöglichen und Tausende von Arbeitsplätzen zu schaffen. „Seitdem wurde die urbane Landwirtschaft von allen Beteiligten mitgestaltet und legitimiert. Jetzt ist sie ein wichtiger Bestandteil der Stadtplanung.“
Im Jahr 2002 wurde der erste Ökomarkt mit der Förderung der Stadtverwaltung ins Leben gerufen, denn das schon kreierte PAUR (Urbane Landwirtschaftsprogramm von Rosario) hatte auch das Ziel, die Vorteile der agrarökologischen Produktion den Konsumenten näherzubringen und damit die Verdienstmöglichkeiten der Gärtner zu verbessern. „Wir wollten den Ökomarkt an einem zentralen Ort einrichten, in welchem die Gärtner, die vor allem aus der Peripherie stammen, sich mit den Leuten des Stadtzentrums –aus besser situierten Vierteln– verbinden können. Die ‚Huerteros‘ waren am Anfang skeptisch, nach zwei Stunden war aber alles ausverkauft“. Schon im Jahr 2004 hatte diese essbare und agrarökologische Stadtgestaltung 800 Gärten errichtet, wobei der Zugang zur Agrarfläche in Rosario Bestandteil der Bodenpolitik wurde und tausenden von städtischen Gärtnern ihre Zukunft in ihre Hände nehmen konnten.
Das Agrarökologische und Biodynamische Zentrum von Rosario wurde im Jahr 2017 ins Leben gerufen und bietet Schulungen für Gärtner an.
Die Legitimation des Projektes führte zu neuen Kooperationen. Eine Studie der Rosario Universität wies etwa nach, dass 36% der unbebauten Fläche der Stadt der urbanen Landwirtschaft gewidmet werden könnte. Vor allem boten die Parks, die Überschwemmungsgebiete und die Areale entlang der Bahngleise vorteilhafte Bedingungen für die Gestaltung neuer Gärten, um die essbare Landschaftsgestaltung und die Direktvermarktung von pestizidfreiem Gemüse und Kräutern durch dezentrale Ökomärkte weiterzuentwickeln.
Die lebendige Biodiversität des Parque Huerta Oeste.
Die urbane Landwirtschaft in Rosario gewährleistet einen sicheren Zugang zu Agrarfläche. Im Austausch verpflichten sich die Gärtner, die Areale zu pflegen und ökologisch zu produzieren. Einige qualitative Erfolge sind der Schütz von unbebauten Flächen gegen illegale Besetzung, Kosteneinsparungen auf Seite der Stadtverwaltung bei der Überwachung unbenutzter Bräche und die Umwandlung von vernachlässigten Orten in produktive Wohlfühloasen.
Die Areale entlang der Bahngleise lassen sich in produktive Wohlfühloasen umwandeln.
Kompost und Saatgut für alle
Das Biodynamische und Agrarökologische Zentrum fasst die multidimensionale urbane Landwirtschaft der Stadt zusammen. Brennnesseln und Kürbissen bedecken den Eingang der Einrichtung, deren grünen Beete eine reiche Biodiversität beheimaten, die unter schattenden Obstbäumen gedeiht. Antonio beschreibt die Aktivität, die heute vormittags auf uns wartet: die Aufbereitung einer biodynamischen Komposthaufe inmitten dieser waldigen Enklave, die im Jahr 2017 gegründet wurde, als die „Huertas“ schon mehrere Preise weltweit gewonnen hatten und die Red de Huerteros y Huerteras eine wichtige und anerkannte Sozialakteurin der Stadt geworden war.
Die Teilnehmer –Gärtner, Journalisten, biodynamische Landwirte, Wissenschaftler– bereiten die sechs Präparaten vor: Löwenzahn, Schafgarbe, Kamille, Baldrian, Brennnessel und Eichenrinde. Wir alle machen mit während ein Kameramann der argentinischen Fernsehstation TELEFE den ganzen Vorgang dokumentiert. In dieses Zentrum fließen unterschiedliche Impulse zusammen: Schulungen werden von dem PAUR und dem biodynamischen Verband Argentiniens angeboten und die Saatgutbank kümmert sich um die Erhaltung von Samen in Bioqualität aus ganz Argentinien und die Wissensweitergabe durch Hefte. Die Gruppe arbeitet schnell und präzise. Sobald der Kompost fertig ist, sprechen wir über die Bedeutung der Aktivität. Eine Gärtnerin, seelisch berührt, bedankt sich bei der urbanen Landwirtschaft für die Selbstbestimmung, die sie dank der „Huertos“ entwickeln konnte.
Saatgutbezeichnung bei dem Agrarökologischen und Biodynamischen Zentrum. / Die Einrichtung wird von der Stadtverwaltung direkt gefördert.
Das PAUR (Programa de Agricultura Urbana de Rosario) gewann den UN-Habitat Preis im Jahr 2004. Die Stadt Rosario hat zurzeit sechs Ökomärkte, die von der Stadtverwaltung und den Gärtnervereinen geführt werden, und mehr als 20 „Puntos Verdes“ (Grüne Pünkte).
Aufbereitung eines Komposthaufens mit den sechs biodynamischen Präparaten bei dem Agrarökologischen und Biodynamischen Zentrum Rosarios.
Meinungsverschiedenheiten überwinden
„Das Schönste der urbanen Landwirtschaft in Rosario ist, dass sie Menschen aus sehr unterschiedlichen Herkünften in Kontakt bringt“, sagt Antonio. Vorurteile zu überwinden gehört dazu und das benötigt neue Enklave, Vorbilder und Gärtner. Dabei ist eine Kooperation mit dem Bar Sunderland entstanden. Seit 10 Jahren unterstützt dieser traditionelle Bar der Stadt die agrarökologische Schulung von Jungen mit dem Verleihen eines Areales. Die Zusammenarbeit mit der Gastronomie verfolgt einen pädagogischen Zweck: Selbstbestimmung für die Junge, welche durch die soziale Gärtnerei einen Weg aus der Arbeitslosigkeit finden können. Die Anwendung von biodynamischen Kräutern in der Küche von Sunderland kommt natürlich auch in Frage.
Trotzt ihren Erfolgen, musste die urbane Landwirtschaft in Rosario auch Schwierigkeiten überstehen. „Wir haben als NGO angefangen und wurden von unseren Kollegen fast marginalisiert, weil wir uns mit dem Staat verbanden, was viele als etwas negatives betrachteten. Aus der staatlichen Seite vermutet man manchmal, dass die hiesigen NGOs, die sich um das Gemeinwohl kümmern, andere Interessen haben. Man muss die Vorurteile besiegen und sich mit diversen Akteuren vernetzen, je mehr, desto besser“, sagt Antonio, wer heute Abend einen Vortrag im Stadtzentrum über die „Reruralisierung der Städte“ halten muss. Ich werde ihn mit einer Fotodokumentation über deutsche und schweizerische Gärten begleiten.
Schulungen für junge Gärtner bei Sunderland, ein traditioneller Bar der Stadt Rosario, wo das von der Stadtverwaltung unterstützten Programm "Allianz zwischen Gastronomen und Gärtnern" kreiert wurde.
Essbare Landschaftsgestaltung für die Gemeinschaft
Am nächsten Tag fahren wir zusammen zu dem Parque Huerta Oeste hin, ein Projekt, auf das Antonio besonders stolz ist, denn diese Gartenansiedlung von zwei Hektar –in einem der einkommensschwachen Stadtteile liegend– bringt die Funktionen eines Parks mit der Agarökologie in Einklang. Die warme Feuchtigkeit Rosarios prägt das bunte Areal, dessen Gemüse und Kräuter von einem milden Sonnenlicht harmonisch erhellt werden und von 35 Familien –vor allem Frauen– bewirtschaftet wird. Zurzeit gibt es neun „Parque Huertas“ in Rosario Stadt, welche von zahlreichen Gärtnervereinen lebendig gehalten werden und den Bürgern dezentral mit pestizidfreien Lebensmitteln versorgen.
Der Parque Huerta Oeste.
Eine essbare Landschaft? Antonio und seine Kollegen haben ja dieses Ziel und deswegen sind sie manchmal unterwegs. Javier Couretot, ein engagierter Agraringenieur, der an dem Saatgutprogramm von PAUR beteiligt ist, nahm 2017 an dem von der Grüne Liga Berlin internationalen Tagung der Urbanen Landwirtschaft teil und stellte die kreative Mischung aus Stadtplanung, Ernährungssouveranität und solidarische Wirtschaft vor, die Rosario in ein Vorbild der urbanen Landwirtschaft verwandelt hat. Selbst Antonio Lattucca hat weltweit Vorträge gehalten, um zu zeigen, wie sich eine agrarökologische Landschaftsgestaltung in der Stadt trotzt finanziellen und bürokratischen Hürden erschaffen lässt. „Ich bin fest davon überzeugt, dass jeder Park eine ‚Huerta‘ haben muss. Sonst ist es zu statisch, nur ein Park zum Anschauen“.
Die PAUR wollte zudem die Vermarktung von Gemüse in der Nachbarschaft begünstigen und rief den „Grünen Punkt“ (Punto Verde) ins Leben. „Das ist wie ein Biokiosk. Auf diese Weise können die Nachbarn Zugang zu wertvollen und vitaminreichen Lebensmitteln haben, welche auch direkt in ihrem Viertel klimaschonend angebaut werden.“ Nicht weit weg von hier besichtigen wir einen ähnlichen „Grünen Punkt“, der die heutige Ernte der am Rande der Bahngleise liegenden Gärten zur Schau stellt. Wildkräuter, Obstbäume, Gemüse und die Willenskraft einer Gruppe von Gärtnerinnen haben diese Fläche, wo es früher von Müll und Schrot wimmelte, in einen lebendigen Ort umgewandelt.
Der "Punto Verde" ("Grüner Punkt) des Gartens am Rande der Bahngleise, wo die Ernte zur Schau gestellt wird.
Die 800 Gemeinschaftsgärten werden von neun „Parques huerta“, zwei Gartenansiedlungen entlang der Bahngleise, 30 Schulgärten, 2500 Familiengärten und dem „Centro Agroecológico y Biodinámico“ ergänzt.
Drei Pionierin des Gartens am Rand der Bahngleise.
Vermarktung in dezentralen Orten
Am Sonntag empfangt die Plaza Suecia Hunderte von Besuchern, die gern Gemüse und Kräuter auf dem Wochenökomarkt einkaufen. Die Initiativ wurde dank des Engagements der PAUR, der Unterstützung der Stadtverwaltung und der Teilnahme von Gärtnern und Gärtnerinnen, die hier die Gelegenheit haben, ihre Produkte direkt zu verkaufen und den ganzen Preis zu erhalten, ins Leben gerufen. Radfahrer, Familien, Stammkunden, Touristen: der gut situierte Biomarkt, der in der Nähe des Flusses liegt, erweckt das Interesse von verschiedenen Passanten. Antonio begrüßt die Gärtner und ermuntert sie, sich von mir porträtieren zu lassen. „So wichtig als die biologische Vielfalt ist die menschliche“ betont er.
Der neun Ökomärkte Rosarios verkörpern die letzte Phase der Wertschöpfungskette der agrarökologischen und biodynamischen urbanen Landwirtschaft, wobei der faire Preis für die Produzentinnen gemeinschaftlich abgestimmt wird. Daraus gingen Innovationen, wie zum Beispiel die Herstellung von Kosmetika, um Mehrwert anzubieten, hervor. Selbst der Bioladen „Suelo Común“, der 100% agrarökologischen und biodynamischen Produkten aus Argentinien anbietet, vermarktet auch das Biogemüse aus Rosario in der Markthalle „Del Patio“, ein zentraler Treffpunkt der rosarianischen Gastronomie. Die Vielfalt an Kanäle für die Kommerzialisierung der Ernte der urbanen Landwirtschaft vervollständigt den sozialen Kreislauf, den die PAUR durch die Beteiligung unterschiedlicher Akteure allmählich einrichten konnte.
Die Gärtner verkaufen ihre Biogemüse auf dem Biomarkt in Plaza Suecia.
Gemüse aus der ökologischen urbanen Landwirtschaft bei dem Bioladen „Suelo Común“, der auf der Markthalle „Del Patio“ sich befindet.
Können hierdurch auch soziale Abgründe durch die Veranstaltung von Ökomärkten überwindet werden? „Viele Menschen in der Peripherie dachten, die Leute aus dem Stadtzentrum waren egoistisch und diskriminierend gegenüber Geringverdienern, während Leute aus dem Stadtzentrum die Idee hatten, Bürger aus der Peripherie seien Kriminellen oder unproduktiv. Hier auf dem Markt kann auf kleinem Maßstab eine gewisse Verbundenheit entstehen“, erzählt Antonio, der sich auch über die Annäherung zwischen wissenschaftlichen Institutionen Rosarios –wie dem Planetarium– und einer mit uralten Traditionen Lateinamerikas verbundenen biodynamischen Methodik freut.
Die sechs biodynamischen Präparaten –Löwenzahn, Schafgarbe, Kamille, Baldrian, Brennnessel und Eichenrinde– ergänzen die Anwendung von Brennnesseljauche fördern die nötige Bodenfrüchtbarkeit in der Stadt.
Die multifunktionale und gemeinwohlorientierte Leistung der urbanen Landwirtschaft in Rosario wird sich aufgrund ihrer sozialen Legitimierung weiterentwickeln. Die Gestaltung neuer Gärten in Krankenhäusern und staatlichen Schulen expandiert einen Impuls, welcher den Zwängen des konventionellen Ernährungssystems entkommt und wahre Verdienstmöglichkeiten für tausende „Huerteras“ und „Huerteros“ durch eine nachhaltige Stadtplanung sicherstellt. Im Endeffekt, werden diese vielfältige Interventionen in der eigenen Umgebung als der Schützt des eigenen Territoriums wahrgenommen, was ein Gegengewicht gegenüber der chronischen Wirtschaftskrise Argentiniens durch eine Zusammenarbeit darstellt, welche die Bewunderung der globalen „Urban Farming“ Bewegung erweckt hat.